DVT Beispiel

Nun aber zum eigentlichen Fall: - Teil 3 - Veröffetlichung KFO-Intern: Prof. Dr. Gerhard Polzar (KKU), Dipl.-Inform. Frank Hornung, Max Herberg

Der 14,2 Jahre alte Patient Robin K. (Name geändert) erscheint im Mai in meiner Praxis. Es zeigt sich eine Eruptionsstörung im 1. Quadranten. Die restlichen Quadranten sind voll bezahnt und regelrecht entwickelt. Unregelmäßigkeiten, wie z. B. dass die Postzustellung zur GKV zwei Wochen gedauert hätte, haben zu einer erheblichen Zeitverzögerung geführt. Letztendlich lag das ablehnende Kassengutachten erst im November vor, ganze 6 Monate später!!! Die Begründung hierzu war spartanisch gehalten und kurz: „Bedauerlicherweise muss ich Ihnen mitteilen, dass ich die von Ihnen getroffene KIG-Einstufung „S4“ aktuell nicht nachvollziehen kann“. Eine andere, auch mögliche und für den Patienten befürwortenden KIG-Einstufung (hier kämen noch P4 oder M3 in Frage) konnte die gut fortgebildete Kassenwirtschaftlichkeitsprüferin leider auch nicht finden. Selbst zwei Telefonate mit den behandelnden Kollegen halfen nicht, ihre Erkenntnisse und ihren Horizont zu erweitern.

Der Intraorale Befund (Abb. 14a-c) stellt den behinderten retinierten Zahnwechsel dar. Da der Patient nun schon 14 ½ Jahre alt ist und ein vollständig abgeschlossener Zahnwechsel der zweiten Wechselgebissperiode mit 12 Jahren plus/minus 6 Monaten vorliegen sollte, ist der Zahnwechsel im 1. Quadranten definitiv um mindestens 2,5 Jahre verzögert. Auch der Vergleich mit der vollständig entwickelten linken Seite verifiziert die Feststellung eines einseitig verzögerten Zahnwechsels bzw. einer Retention dieser Zähne 13 bis 15.

Abb.14a-c Intraorale Aufnahmen des zu begutachtenden 14jährigen Patienten. Multiple Zahnretentionen im 1. Quadranten + Kopfbissstellung Zahn 22.

DVT 3D-Ansicht 14a

14a

DVT 3D-Ansicht 14b

14b

DVT 3D-Ansicht 14c

14c

Die Modellanalyse ergab eine Boltondiskrepanz durch leicht übergroße Unterkiefer-Frontzähne gepaart mit einer etwas zu kleinen Zahnanlage des Zahnes 12. Es liegt eine neutrale biprotrusive Verzahnung mit verkleinertem Interincisalwinkel von 117° vor. Der Platzmangel im 1. Quadranten beträgt im Seitenvergleich zur linken Seite ca. -4 mm. Der benötigte Platz zur Retrusion der Oberkiefer-Front nach Norm Tonn und Schopf-Analyse beträgt -1,1 mm. Dies ergibt alleine im Bereich des ersten Quadranten einen Platzmangel von 5,5 mm. Alte Hardliner deuten diesen Befund schon als Indikation zur Extraktion von vier gesunden Prämolaren! Der linke obere Schneidezahn steht mit seinem Antagonisten und dem Zahn 33 im frontalen Kopfbiss (KIG=M3).

Obwohl ich kein Freund der KIG-Einstufungen bin und auch kein Freund von vorschnellen Zahnextraktionen, kann hier schon die Einstufung in die Gruppe S4 (=Platzmangel über 4 mm) gegeben werden. Da der prägnantere und eindeutig erkennbare Befund jedoch die Retention der gesamten linken oberen Zahngruppe war, hatte ich die Einstufung S4 gewählt. Auf dem OPT ist dieser deutliche Platzmangel ebenfalls unschwer erkennbar, ebenso das „Uglydugly pattern-Syndrom“ mit dem dorsolabialen Wegschieben des Zahnes 12. Dieses Warnzeichen bedeutet nichts anderes, als dass der Eckzahn gegen die Zahnwurzel des seitlichen Frontzahnes drückt und diesen womöglich noch zu schädigen droht. All diese Befunde lagen der Gutachterin vor, sie konnte sie dennoch nicht erkennen.

In einem Telefonat mit der Gutachterin wies ich nun auf die schon im OPT sichtbar dilazerierten Wurzelspitzen hin, welche als sichere Ursache der Retention gewertet werden könnten (Abb. 15).

DVT Wurzelspitzek

Abb.15 OPT des 14 Jahre alten Patienten. Die retinierten Zähne zeigen alle eine Dilazeration der Wurzelspitze. Die beiden Wurzelfrakturen der Schneidezähne 11 und 21 lassen sich allenfalls erahnen.

Auch ist zu befürchten, dass bei Fortbestehen der Retention die noch nicht vollständig ausgewachsenen Wurzelspitzen nun noch weiterhin in die abgeknickte Richtung wachsen und dann eine spätere Einordnung aller drei retinierten Zähne eventuell nicht mehr möglich sein könnte. Daraufhin antwortete die Gutachterin, mit ihrer Erfahrung solle man doch erst einmal den persistierenden Milchzahn 53 extrahieren und dann abwarten, was passieren würde.

Abwarten auf was? Der Knabe ist schon bald 15 Jahre alt, die Wurzelspitzen wachsen weiter und verankern die Zähne in der retinierten Position dann für immer!? Ich bot der Gutachterin an, sich die vorhandenen DVT-Aufnahmen anzuschauen. Da kam die prompte Antwort: „Das brauche ich nicht, das ist hier ja auch nicht notwendig“. Daraufhin fragte ich, ob sie denn die DVT-Sach- und Fachkunde besitzen würde, was ich bei einer Gutachterin als selbstverständlich annahm. Es wurde still, sie wollte mir nicht antworten, dann sprach sie, dass sie regelmäßig ihre Gutachterfortbildung besuchen würde.

Und ich dachte mir nur, dass es das dann auch war. Über den Tellerrand zu schauen und rege an Fachfortbildungen teilzunehmen, ist erfahrungsgemäß bei Gutachtern die Seltenheit und gerade diese wenigen Gutachter sehe ich dann immer wieder, für diese gilt der Name „Gut“ und „Achter“ dann auch zu recht.

Nun, was sagt die DVT?

Die parasagittale Schnittführung (Abb. 16) zeigt deutlich die dilazerierten (abgeknickten) Wurzelspitzen an Zahn 15 und Zahn 13. In transversaler Ebene mit Schnittführung durch den Bereich der Kollision der Zahnkrone 13 zur Zahnwurzel 12 ist an der Kollisionsstelle eine de-zente konkave Einwölbung zu sehen. Da diese Einwölbung bei der Wurzel auf der kontralateralen Seite nicht vorhanden ist, liegt hier vermutlich eine Schädigung der Zahnwurzel des Zahnes 12 mit approximaler distolateraler Wurzelresorption vor (Abb. 17).

DVT 16

Abb.16 DVT mit parasagittaler Schnittführung. Die kohärenten Dilazerationen der Wurzelspitzen an 15 und 13 sind dargestellt.

DVT 17

Abb.17 DVT-Horizontalschnitt durch die Zahnkrone des verlagerten Eckzahnes 13. Deutliche Wurzelresorption an 12, insbesondere im Vergleich zur Darstellung der Zahnwurzel von 22

Diese Befunde sprechen alle dafür, dass eine kieferorthopädische Behandlung zügig begonnen werden sollte, da eine weitere Schädigung der Zahnwurzel 12 zu befürchten ist und somit ein irreversibles Krankheitsbild mit der Tendenz zu Verschlechterung vorliegt. Aber: die Gutachterin braucht keine DVT-Aufnahme. Für sie ist das Gebot des Abwartens besser (und auch billiger)! Da drängt sich mir nur die Frage auf: „Ist das noch ärztlich?“. Hoffen wir, dass sie recht hat und ich keiner unterlassenen Hilfeleistung beschuldigt werden kann.

Die weitere Durchsicht ergibt zwei zusätzliche Befunde: Sowohl der Zahn 12 als auch der Zahn 21 weisen eine durchgehende Wurzelfraktur mit Abdriften des Frakturelementes nach dorsocranial auf (Abb. 18,19). Der Patient kann sich an kein Trauma erinnern. Wahrscheinlich hatte er bei einer Balgerei mit seinem kleinen Bruder dieses Frakturtrauma vor 4-6 Jahren erhalten, den Vorfall aber dann vergessen. Das Erfreuliche ist aber, dass beide Zähne beim Kältetest Vitpositiv reagieren.

DVT 18 Sagittalschnitt

Abb.18 Sagittalschnitt durch Zahn 11 mit schräger Wurzelfraktion. Diese ist im OPT nicht sichtbar.

DVT 19 Wurzelfraktion

Abb.19 Sagittalschnitt durch Zahn 21 mit schräger Wurzelfraktion. Diese ist im OPT angedeutet.

Jeden Tag kommen solche oder ähnliche Befunde in der kieferorthopädischen Praxis vor. Es stellt sich die Frage, ob wir diese Befunde sehen wollen oder nicht?! Wollen wir die Augen davor verschließen und blind sein, das ist in den meisten Fällen ja auch so viel bequemer und billiger; oder wollen wir uns mit diesen neuen Erkenntnissen auseinandersetzen? Brauchen wir in der KFO die DVT oder ist sie überflüssig? Für mich steht die Antwort fest und ich bin mir sicher, Sie kennen meine Antwort!

Nachtrag Sämtliche Aufnahmen wurden mit dem neuesten DVT-Gerät der Firma Newtom angefertigt, einem Newtom G5XL. Für die technische Ausrüstung und immerwährende Beratung bedanke ich mich herzlich bei Herrn Dipl.-Inform. Frank Hornung. Ebenso bedanke ich mich bei Herrn Max Herberg für die Unterstützung zu diesem Artikel und die in hervorragender Qualität angefertigten Aufnahmen.

DVT 20 Gerät

Abb.20 Patient im Newtom G5 XL vor der Positionierung.