Die Modellanalyse ergab eine Boltondiskrepanz durch leicht übergroße Unterkiefer-Frontzähne gepaart mit einer etwas zu kleinen Zahnanlage des Zahnes 12. Es liegt eine neutrale biprotrusive Verzahnung mit verkleinertem Interincisalwinkel von 117° vor. Der Platzmangel im 1. Quadranten beträgt im Seitenvergleich zur linken Seite ca. -4 mm. Der benötigte Platz zur Retrusion der Oberkiefer-Front nach Norm Tonn und Schopf-Analyse beträgt -1,1 mm. Dies ergibt alleine im Bereich des ersten Quadranten einen Platzmangel von 5,5 mm. Alte Hardliner deuten diesen Befund schon als Indikation zur Extraktion von vier gesunden Prämolaren! Der linke obere Schneidezahn steht mit seinem Antagonisten und dem Zahn 33 im frontalen Kopfbiss (KIG=M3).
Obwohl ich kein Freund der KIG-Einstufungen bin und auch kein Freund von vorschnellen Zahnextraktionen, kann hier schon die Einstufung in die Gruppe S4 (=Platzmangel über 4 mm) gegeben werden. Da der prägnantere und eindeutig erkennbare Befund jedoch die Retention der gesamten linken oberen Zahngruppe war, hatte ich die Einstufung S4 gewählt. Auf dem OPT ist dieser deutliche Platzmangel ebenfalls unschwer erkennbar, ebenso das „Uglydugly pattern-Syndrom“ mit dem dorsolabialen Wegschieben des Zahnes 12. Dieses Warnzeichen bedeutet nichts anderes, als dass der Eckzahn gegen die Zahnwurzel des seitlichen Frontzahnes drückt und diesen womöglich noch zu schädigen droht. All diese Befunde lagen der Gutachterin vor, sie konnte sie dennoch nicht erkennen.
In einem Telefonat mit der Gutachterin wies ich nun auf die schon im OPT sichtbar dilazerierten Wurzelspitzen hin, welche als sichere Ursache der Retention gewertet werden könnten (Abb. 15).
Abb.15 OPT des 14 Jahre alten Patienten. Die retinierten Zähne zeigen alle eine Dilazeration der Wurzelspitze. Die beiden Wurzelfrakturen der Schneidezähne 11 und 21 lassen sich allenfalls erahnen.
Auch ist zu befürchten, dass bei Fortbestehen der Retention die noch nicht vollständig ausgewachsenen Wurzelspitzen nun noch weiterhin in die abgeknickte Richtung wachsen und dann eine spätere Einordnung aller drei retinierten Zähne eventuell nicht mehr möglich sein könnte. Daraufhin antwortete die Gutachterin, mit ihrer Erfahrung solle man doch erst einmal den persistierenden Milchzahn 53 extrahieren und dann abwarten, was passieren würde.
Abwarten auf was? Der Knabe ist schon bald 15 Jahre alt, die Wurzelspitzen wachsen weiter und verankern die Zähne in der retinierten Position dann für immer!? Ich bot der Gutachterin an, sich die vorhandenen DVT-Aufnahmen anzuschauen. Da kam die prompte Antwort: „Das brauche ich nicht, das ist hier ja auch nicht notwendig“. Daraufhin fragte ich, ob sie denn die DVT-Sach- und Fachkunde besitzen würde, was ich bei einer Gutachterin als selbstverständlich annahm. Es wurde still, sie wollte mir nicht antworten, dann sprach sie, dass sie regelmäßig ihre Gutachterfortbildung besuchen würde.
Und ich dachte mir nur, dass es das dann auch war. Über den Tellerrand zu schauen und rege an Fachfortbildungen teilzunehmen, ist erfahrungsgemäß bei Gutachtern die Seltenheit und gerade diese wenigen Gutachter sehe ich dann immer wieder, für diese gilt der Name „Gut“ und „Achter“ dann auch zu recht.