Kritische Bewertung des Falles

Ganz sicher war das eines meiner schwierigsten und riskantesten Fälle, die ich in meiner dreißigjährigen Praxiserfahrung behandelt habe. Auch bin ich mir sicher, dass mir ein solcher Behandlungserfolg mit festsitzenden Behandlungsmittle nicht gelungen wäre. Die anscheinend sinnvolle Alternative wäre vielleicht die Extraktion zweier oberer Prämolaren und nachfolgende chirurgische Vorverlagerung der Maxilla. Aber Extraktionen möchte ich per se soweit als möglich vermeiden, da sie immer einen sehr invasiven Eingriff in das biomechanische System des Kauapparates darstellen und eine chirurgische Vorverlagerung des Oberkiefers ist auch kein kleiner Eingriff und ebenfalls mit vielem Risiken verbunden. Also blieb dann nun nicht viel an alternativen Optionen übrig. Gestärkt durch meine Erfahrung mit anderen frontalen Kreuzbissen, die ich alle, egal welchen Alters, erfolgreich überstellt hatte, wagte ich nun diesen Schritt mit Alignertechnik. Der Unterschied bestand nur darin, dass die anderen Patienten nur maximal 1-2 mm progene Verzahnung im Seitenzahnbereich aufwiesen und auch nicht einen so ausgeprägten Tiefbiss in der Front hatten. Zu der über 6 mm progenen Seitenzahnokklusion kam noch ein sehr entscheidendes für Asiaten typisches Merkmal hinzu: Übergroße Frontzahnkronen bei sehr kurzen Zahnwurzeln und einer sehr geringen (nur 5 mm) Verankerung im Alveolarknochen(siehe Abb. 5, 6).

Ohne die vorherige Diagnostik im DVT, wäre ich auch bestimmt nicht diesen mutigen Schritt gegangen. Das verdeutlicht, wie wichtig eine umfassende Diagnostik und hier insbesondere die 3D-Diagnostik bei der Therapieplanung erwachsener Patienten ist. Erst durch die vollständige Erfassung aller therapierelevanten Parameter öffnet sich ein geeignetes Therapiespektrum. Hierzu gehört ganz besonders die Lage der Kiefergelenkköpfchen in Relation zur Gelenkpfanne.

Gerade bei progenen Patienten ist es häufig, dass das Caput mandibulae nicht in Zentrallage zur Fossa articularis steht, sondern in mesial exzentrischer Position. Genauso häufig finden wir bei erwachsenen Patienten mit ausgeprägtem Deckbiss eine Kompression des KG nach dorsocranial. Beide Phänomene helfen, die jeweiige Okklusionsabweichung besser zu korrigieren. Wir müssen nur wissen, ob diese vorhanden ist und ob sie sich beidseitig oder nur einseitig darstellt. Aus diesemGrunde ist eine Bestimmung der Lage des Condylus unter Zuhilfenahme einer DVT-Aufnahme für jede Erwachsenenbehandlung unerlässlich, es sei denn, man nimmt das Risiko der Überraschungen während der Therapie einfach in Kauf. (siehe Abb. 45-48)

Dieser Fall war insofern auch ein Meilenstein zur Erkenntnis, wie wichtig eine DVT-gestützte Therapieplanung in der Erwachsenentherapie ist. Leider hatte ich bei dieser Patientin nur eine Aufnahme in Retralposition gemacht, um die mögliche Zielposition widerzuspiegeln. Daraus lässt sich zwar die Abweichung der Kondylusposition bei Schlussbisslage errechnen, aber noch besser wäre eben, die Aufnahme in habitueller Position anzufertigen, was der Autor nun auch für die Erwachsenentherapie als Standard erhoben hat. Wenn ich nicht weiß, wo die Kiefergelenksköpfchen stehen, kann ich keine zielgerichtete artikulationsgerechte Therapieplanung durchführen. Das Glück oder das Pech stehen mir dann mehr zur Seite, als die Vernunft und die Übersicht über das vorliegende therapeutische Feld.

Bei derartigen Fällen, mit mesialem Zwangsbiss kommt uns dieses Faktum sehr zu Hilfe, denn es beschleunigt die Überstellung des frontalen Kreuzbisses erheblich. Der Kreuzbiss wurde in dem vorliegenden Fall schon im ersten Drittel der Behandlung überstellt, während die ClinCheck-Planung dies erst im letzten Behandlungsdritte vorsah. Mit dem Wissen der Kondylusposition kann dann auch in der Zukunft einen viel effizientere ClinCheck-Planung vorgenommen werden. Es können Zeiten mit möglichem Jiggling-Effekt auf ein Minimum reduziert werden. Die Belastungen der dentoalveolären Strukturen und die der Zahnwurzeln werden dabei wesentlich verringert und das Scheitern einer komplexen risikobehafteten Therapie minimiert.

Eines ist mir jedoch in diesem Fall nicht ganz so optimal gelungen. Es wurde keine zentrale Einstellung der Mittellinie erreicht (Abb. 94, 95) und im linken Seitenzahnbereich haben wir nun statt einer progenen Verzahnung eine geringe Distalbisslage (1 mm) mit dezenter Kompression im li Kiefergelenk (vgl. Abb. 96, 97).

Anfangs dvt

Abb. 94 Anfangs-DVT mit UK in maximal retrudierter Poaition. Der UK weist eine MiLV von 4,2 mm zur linken Seite hin auf.

DVT Frontal

Abb. 95 DVT-frontal. Zwei Jahre in Retention. Das Ergebnis ist stabil. Die MLV konnte von 4,2 mm auf 1,5 mm erfolgreich verringert werden.

Linkes Caput Mandibulae

Abb. 96 Linkes Caput mandibulae mit dorsaler Kompression in habitueller Okklusion.

Rechtes Caput Mandibulae

Abb. 97 Rechtes Caput mandibulae in zentraler Positon zur Fossa articularis.

Ausmaß der Kiefergelendysposition

Dies wäre sicherlich zu vermeiden gewesen, wenn wir von vornherein das genaue Ausmaß der Kiefergelendysposition gekannt hätten. Auch spielen hierbei zwei andere Fakten eine nicht unwesentliche Rolle: Die Patientin weist im spiegelsymmetrischen Vergleich rechts einen geringeren Abstand des Processus coronoideus zum Oszygomaticum auf, als auf der linken Seite. (Abb. 98-101). Das lässt den Rückschluss zu, dass die Muskelaktivität auf der rechten, nicht komprimierten Seite, höher ist, als auf der linken Seite, welche sich habituell auch nicht in der optimalen Position befindet. Wahrscheinlich hat der laterale Kreuzbiss der Zähne 23 und 26 dazu geführt, dass das linke KG durch dorsale Überlastungskräfte dauerhaft geschädigt wurde. Die manuelle Funktionsdiagnostik wies allerdings keine gravierenden Befunde auf. Mit dieser Zahn- und Kiefergeschichte ist dann auch plausibel, warum die Patientin vornehmlich auf der rechten Seite gekaut hatte. Dies förderte die dortigen anatomischen Strukturen in asymmetrischer Weise, was wiederum durch eine Spiegelsymmetrische Coronoideus-Analyse nach Polzar (SCAP) nachgewiesen werden kann.

Überlagerung des Corpus mandibulae

Abb. 98 Bei Überlagerung des Corpus mandibulae tangiert der Proc. coronoideus den Jochbogen

kontralateralen Seite

Abb. 99 Auf der kontralateralen Seite, links ist der Proc. coronoideus viel geringer ausgebildet, deshalb ist bis zum Jochbogen noch ein messbarer Abstand von über 2 mm.

Spiegelsymmetrische Analyse

Abb. 100 Spiegelsymmetrische Analyse, rechts 1,0 mm. Das lässt auf eine höhere Muskelaktivität auf der rechten Seite schließen.

Spiegelsymmetrische Analyse 2

Abb. 101 Spiegelsymmetrische Analyse, hier links 2,6 mm

Flacher Gonionwinkle

Abb. 102 Flacher Gonionwinkle rechts bei maximal retraler Position des UK

Bei unserer Patientin liegt zudem eine ausgeprägte Diskrepanz des Gonionwinkels vor. Während der Gonionwinkel auf der rechten Seite mit 125,1° sehr flach verläuft (Abb. 102), ist im linken aufsteigenden Ast ein steiler Gonionwinkel von nur 106,6° mit verkürzter Unterkieferlänge sichtbar (Abb. 103). Diese Verkürzung der anatomischen Struktur mag ebenso dazu beigetragen haben, dass die angewendeten Kl III GZ auf der linken Seite und die Korrektur der Kondylusposition eine viel effektivere Wirkung gezeigt haben und es somit zu dieser verstärkten Distalverschiebung kam. Bei aller Kritik ist festzustellen, dass bei einer derartgravierenden Ausgangsposition das erreichte Behandlungsergebnis durchaus als voller Erfolg bezeichnen kann. Ich danke dem Leser für seine Aufmerksamkeit und der Patientin für ihre liebenswerte Einwilligung zur Veröffentlichung dieses komplexen Falles (Abb. 104) und schaue neugierig in die DVT-gestützte Zukunft der Kieferorthopädie.

Steiler Gonionwinkel

Abb. 103 Steiler Gonionwinkel bei maximal retraler Position auf der rechten Seite.

Lächeln

Abb. 104 Ein Lächeln mit Gruß an die kieferorthopädische Gemeinschaft, von meiner glücklichen Patientin.

vorher

Abb. 105 Vergleich, Patientin vorher

nachher

Abb. 106 ...und nach 28 Monaten aktiver Therapie mit 78 Alignern im OK und 87 Alignern im UK.


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