Mythos 3 "Kiefergelenk und Kieferorthopädie, DVT-Diagnostik nur selten erforderlich"

Teil - 3 - Veröffetlichung KFO-Intern: Prof. Dr. Gerhard Polzar, KKU und ZA. Max Herberg

Trotz reduzierter Strahlenbelastung der neuen, getakteten Volumentomographen ergibt sich eine sehr zurückhaltende Beschreibung in der Erfordernis von einer Anfertigung von DVT-Aufnahmen gemäß der aktuellen Empfehlungen der DGKFO. Ist der Standpunkt aus heutiger Sicht noch haltbar? Ist es nicht, für fast jeden Patientenfall, jedoch zumindest bei erwachsenen Patienten und hier insbesondere bei Patienten mit einer möglicherweise notwendigen chirurgischen Intervention oder Patienten mit Zweitbehandlung von zwingender Notwendigkeit, dass sich der Kieferorthopäde über die anatomischen Relationen von Okklusion und Kiefergelenksposition zur Fossa articularis ein aussagekräftiges und umfassendes Bild verschafft?

Eigentlich sollte jedem Kieferorthopäden bei jeder Behandlung bewusst sein, in welcher Position sich die Condylen bei entsprechender Okklusion und Kieferrelation befinden. Wie vermag ich eine stabile Gebissein-stellung vorzunehmen, wenn ich noch nicht einmal ein Bild von der Situation des Ursprungs der Artikulations-bewegung habe.

Dem Autor sind vor allem in den letzten Jahren vermehrt Patienten aufgefallen, bei denen keine funktionelle Harmonie zwischen der habituellen Okklusion und der Position der Condylen in der Fossa articularis vorhanden war. Dies waren nicht nur Patienten, die kieferorthopädisch chirurgisch vorbehandelt waren, sondern auch unbehandelte jugendliche Patienten, welche dezentrische Condylenpositionen aufwiesen.

Beispiel DVT

Hier das Beispiel einer 11-jährigen Patientin. Nach auffälliger manueller Funktionsdiagnostik und provozierbarem linksseitigem Kiefergelenksknacken wurde ein DVT angefertigt. Die Darstellung des linken Kiefergelenkes in parasagittal exzentrischer Schnittführung (Abb. 11, craniokaudale Ansicht mit Darstellung der parasagittalen Schnittführung im Winkel von 25° zur Medianebene) ermöglicht die Abbildung der Lage-position des Condylus zur Fossa articularis in Bezug zur sagittalen Molarenrelation und zum Inzisalpunkt der oberen Incisiven.

Bei dieser Patientin ist der linke Condylus deutlich nach dorsal verlagert, bei ca. 1/2 Prämolarenbreite distaler Molarenrelation in ihrer habituellen Okklusion befund-bar (Abb. 12). Selbst in der visualisierten 3D-Darstellung kann der geübte Blick die Lage und das Ausmaß einer, wie hier vorhandenen, Discusverlagerung erkennen (Abb. 13).

DVT parasagittal exzentrischen Schnittführung

Abb.11 Darstellung der parasagittal exzentrischen Schnittführung in craniokaudaler Ansicht

dvt Parasagittal exzentrische

Abb.12 Parasagittal exzentrische DVT-Aufnahme mit Darstellung des linken Condylus in dorsaler Kompression, der sagittalen Molarenbeziehung und des oberen Inzisalpunktes

dvt Darstellung

Abb.13 Darstellung des linken Kiefergelenkes der 11-jährigen Patientin im 3D-DVT und erkennbare Discus-Strukturen

Auf der rechten Seite hat die gleiche Patientin in habitueller Okklusion fast eine Prämolarenbreite Distalokklusion bei zentraler Lage des Condylus in der Fossa articularis (Abb. 14). Auf dieser Seite sind keine Kompressionserscheinungen feststellbar, das heißt, hier muss die vorhanden Okklusion nicht mit den Werten der Kiefergelenkposition verrechnet, bzw. korrigiert werden.

Selbst bei dieser nur 11 Jahre alten Patientin ist, wie in Mythos 2 angesprochen, in der dreidimensionalen Darstellung eine eindeutige Zuordnung der Lageposition des Discus articularis zur Fossa articularis sichtbar (Abb. 15).

DVT Darstellung Kiefergelenks

Abb.14 Parasagittal exzentrische Aufnahme des rechten Kiefergelenks mit Darstellung der regelrechten zentrischen Condylenposition, der sagittalen Molarenrelation und des oberen Inzisalpunktes

DVT Discus articularis

Abb.15 DVT-3D-Ausschnitt des rechten Kiefergelenks mit deutlich abgegrenzter Darstellung des Discus articularis (dunkelblau). Der Discus erscheint in regelrechter, zentrischer Position

Weiteres DTV Beispiel

Bei der nächsten Patientin ergab sich die Fragestellung, ob die Behandlung rein konservativ mit Alignertherapie zu bewältigen ist, oder ob eine chirurgische Intervention unumgänglich ist. Die Patientin wies eine ausgeprägte Kl. III Okklusion mit negativer sagittaler Stufe auf (Abb. 16).

Um dies festzustellen, wurde die Patientin gebeten, mit dem Unterkiefer eine soweit als möglich retrudierte Position einzunehmen. Aus dieser Position wurde sodann ein DVT im Low-Dose-Modus angefertigt (Abb.17).

Intraorale Aufnahme

Abb.16 Intraorale Aufnahme einer 29-jährigen Patientin mit deutlich progener Verzahnung (Progenie)

Low-Dose-DVT-Ausschnitt

Abb.17 Low-Dose-DVT-Ausschnitt in parasagittal exzentrischer Schnittführung der gleichen Patientin vor Behandlungsbeginn mit retrusiver Mandibularposition bei regelrechter Condylenposition und Interinzisalkontakt.

Diese Position konnte die Patientin einnehmen, ohne dass sie dabei in dorsale Kompression der Condylen geriet (Abb.17). Dies ließ die Schlussfolgerung zu, dass trotz der erheblichen progenen Verzahnung von über 1 PB mesial eine kieferorthopädische Behandlung ohne chirurgische Intervention erfolgreich sein könnte. Die Patientin entschied sich sodann für eine Behandlung ohne chirurgische Bisslagenkorrektur. In der parasagittal exzentrischen Aufnahme vor CaseRefinement, nach 21 Monaten Behandlung ist eine erfolgreiche Bisslageumstellung mit zentrischer Condylenposition zu erkennen (Abb. 18). Auch die intraorale Aufnahme zeigt die erfolgreiche Bisslagekorrektur mit Überstellung des frontalen Kreuzbisses (Abb. 19). Ohne eine entsprechende DVT-Kontrolle vor Behandlungsbeginn wäre der Patientin diese noninvasive Therapieoption womöglich verschlossen geblieben.

DVT in parasagittal exzentrischer Schnittebene

Abb.18 DVT in parasagittal exzentrischer Schnittebene der gleichen Patientin nach 21 Monaten Alignertherapie. Bei neutraler Condylenrelation zeigt sich eine neutrale sagittale Molarenrelation mit überstellten Frontzähnen.

Intraorale Aufnahme

Abb.19 Intraorale Aufnahme der gleichen Patientin nach erfolgreicher Behandlung der Klasse III Okklusion und des frontalen Kreuzbisses. Zur Feineinstellung der Oberkiefer-Front wird die Therapie mit einem Case Refinement der Alignertherapie fortgeführt.

Schlussfolgerung und Fazit DVT Mythos 3

Schlussfolgerung: Um Fehlbehandlungen oder unerwünschten Überraschungen bei kieferorthopädischer Therapie vorzubeugen, ist es unabdingbar, dass sich der behandelnde Arzt eine Information über die eindeutige Lagebeziehung von Condylus zu Fossa im Bezug zur Okklusion verschafft. Die bildliche Darstellung im DVT in exzentrisch parasagittaler Schnittführung beschreibt hierbei eine geeignete Vorgehensweise. Daraus ergibt sich die Frage, ob eine radiologische Diagnostik mit OPT und FRS noch erforderlich oder gar zeitgemäß ist (Strahlenbelastung DVT in Low-Dose-Modus ca. 17µSV vs. digitales OPT 15-20microSV vs. analoges OPT 40-70µSV).

Fazit: Die digitale Volumentomographie ermöglicht eine moderne und zeitgemäße Darstellung des craniofacialen Systems. Bei Verwendung neuerer Geräte im Low-Dose-Modus ist von einer reduzierten Strahlenbelastung auszugehen, welche den konventionellen Aufnahmetechniken überlegen und damit schonender für den Patienten ist. Zusätzlich eröffnen sich mit dem DVT bessere und neue diagnostische Möglichkeiten im Bereich der Kariesdiagnostik, des Discus articularis und der anatomischen Lagebeziehungen der zu therapierenden Strukturen. Es ist der Wunsch der Autoren, dass diese neuen Möglichkeiten durch die Bildgebung mit DVT mehr Beachtung durch die Fachzahnärzte erhalten, wodurch den Patienten eine bessere und risikoärmere Therapiemöglichkeit in Aussicht gestellt wird.

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