Viele Menschen glauben, dass die Weisheitszähne, die in der Regel zwischen dem 18. und 25. Lebensjahr durchbrechen, die bleibenden Zähne verschieben. Den Weisheitszähnen wird also die Schuld in die Schuhe geschoben, wenn nach erfolgter kieferorthopädischer Behandlung die Zähne sich wieder in die “alte” Fehlstellung zurückschieben. Dies nennt man dann Rezidiv.
Hat jeder Mensch Weisheitszähne?
Nein, nicht jeder hat Weisheitszähne und manche Menschen haben nur zwei oder drei Weisheitszähne angelegt. Ebenso gibt es viele Menschen deren untere, hinteren Backenzähne (Molaren) oder die oberen, seitlichen Schneidezähne nicht angelegt sind. (siehe Beispiel Lingualtechnik) Die phylogenetische Entwicklung des Menschen geht in die Richtung, dass weniger Frontzähne und Prämolare, dafür aber mehr Mahlzähne (Molaren) angelegt sind. (Der Mensch entwickelt sich vom Fleischfresser zum Wiederkäuer)
Sind die Weisheitszähne am Verschieben der kieferorthopädisch korrigierten Zähne schuld?
Nach meiner klinischen Erfahrung und nach der Stellungnahme der deutschen Gesellschaft für Kieferorthopädie (DGKFO) sind die Weisheitszähne nicht unbedingt für das Verschieben der bleibenden Zähne verantwortlich. Wenn ein Weisheitszahn genügend Platz hat, um gerade herauszuwachsen, kann er keinen effektiven Druck auf die Zahnreihen ausüben, die zum Verschieben der Zähne führen. Es gibt keine kieferorthopädische Indikation für die Extraktion von Weisheitszähnen. Bei sehr enger Keimlage, Zahnkeim-Retention oder bei verlagerten Weisheitszähnen sollten die Weisheitszähne jedoch operativ entfernt werden. Dieser Eingriff heisst in der Fachsprache Germektomie oder bei ausgewachsenen Zähnen Osteotomie.
Wenn die Weisheitszähne nicht am Rezidiv Schuld sind, wer ist dann daran Schuld und warum werden Zähne wieder schief?
1. Der postpupertäre Engstand, der sich im Alter von 15-19 Jahren entwickelt, wird als tertiärer Engstand bezeichnet. Dieser kann auch entstehen, wenn vormals keine kieferorthopädische Behandlung erfolgt ist. Neueste wissenschaftliche Untersuchung der FOR (foundation for orthodontic research), deren Mitglied ich bin, haben in einer japanischen Gruppe unter Carl Gugino ergeben, dass sich der Lippendruck bei Mädchen in diesem Alter verdreifacht und der Zungendruck, der dagegen hält häufig, nicht mehr ausreicht, um diesem erhöhten Lippentonus stand zu halten. Dies führt dann zu dem sogenannten tertiären Engstand. Männer sind weniger hiervon betroffen, da sich hier der Lippendruck ca. verdoppelt und die skelettalen Strukturen (der Knochenaufbau) eines Mannes viel kräftiger ausgebildet sind als bei einer Frau. Im fortlaufenden Alter nimmt der Lippendruck bei Frauen wieder ab und der natürliche Zungendruck kommt mehr zur Geltung, wobei (mit einer gleichzeitigen Osteoporese und Knochenabbau durch Paradontose) die Zähne weiterhin an Verankerungsstabilität im Kiefer verlieren. Bei dieser Situation wandern dann die Frontzähne genau in die andere Richtung nach vorne. (siehe Invisalign Beispiel Nr. 5)
2. Zähne die sehr schief sind und gerade gedreht werden, ohne sie in dieser Position sehr lange zu halten (Retention, Langzeitretention) oder genau in die andere Richtung wieder schief zu drehen (Überkompensation) wollen sich immer wieder in die “alte” Stellung zurückbewegen. Warum? Jeder Zahn ist an gummiähnlichen Fasern, sogenannten sharpeyschen Fasern, befestigt und hängt quasi im Zahnbett (Parodontium) wie ein Trampolintuch an den Federn. Das heisst nach dem Geraderichten ziehen die Fasern immer in die “alte” Fehlstellung zurück. Da der komplette biologische Umbau des Menschen jeweils 7 Jahre dauert, wäre mindestens eine genausolange Zeit notwendig, um diese Rezidiv-Ursache zu vermeiden.
3. Alle Zähne wollen nach vorne ans Licht, das heisst, es besteht an allen Zähnen zwischen den Kontaktpunkten ein gewisser Druck. Die Summation dieses Druckes macht sich an der schwächsten Stelle, der Unterkieferfront besonders deutlich bemerkbar und führt dann zum Rezidiv. Um dies zu vermeiden, kann man die Kontaktpunkte ihrem physiologischen Alter gemäss flächig gestalten, so dass die Zähne nicht mehr so leicht aneinander vorbei rutschen können und sie besser aneinander liegen. Dieses flach polieren und neu gestalten der Zähne wird als ASR =approximale Schmelzreduktion, Reproximation oder Remodellation der Zahnkrone bezeichnet und ist insbesondere bei der kieferorthopädischen Behandlung von Erwachsenen entscheidend für den Erfolg der Therapie.
Kann ich die Weisheitszähne dann im Mund belassen?
Ja, wenn ausreichend Platz für einen Weisheitszahn besteht, dieser nicht retiniert oder verlagert ist und im Gegenkiefer auf einen anderen Zahn trifft (Antagonist). Dann ist auch ein Weisheitszahn ein vollwertiger Zahn im Kausystem und es besteht keine Indikation diesen zu entfernen. Häufig ist es sogar so, dass bei der Notwendigkeit, vordere kleine Backenzähne zu ziehen, (Extraktion von Prämolaren) nach erfolgter kieferorthopädischer Behandlung so viel Platz gewonnen wird, dass die hinteren, grösseren Weisheitszähne sich regelrecht in das Gebiss einstellen können. Der für die kieferorthopädische Behandlung und zur Geradestellung der Zähne notwendige Verlust eines kleinen Prämolaren führt dann oft zum Gewinn eines fast doppelt so grossem Molaren.
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